Das historische Stück «Roaring Girl» wird in der erstmaligen Übersetzung von Martin Bieri zu «Roaring», einem vielstimmigen, hyperzeitgemässen Monolog über Gender, Identität, Begehren und Widerstand, den sich die Hauptfigur, 400 Jahre nach ihrem wild-glamourösen ersten Auftritt, furios wieder aneignet.
Das Theaterstück «ROARING» wurde im Dezember 2022 und Januar 2023 an verschiedenen Orten aufgeführt. Quelle Text und Fotos: Bernetta Theaterproduktionen
«Ich bin mehr als alles das! / Entweder oder gibt es nicht. / Es gibt nur und. / Und und.»
Das sagt Mary Frith, eine Figur, wie es sie im europäischen Theater kein zweites Mal gibt: 1584 geboren, queer zu jeder Festschreibung, non-binär, eine Grösse auf den Showbühnen und in der Halbwelt Londons, wegen Crossdressing und «grober Unsittlichkeit» zu Gefängnis verurteilt, in Erinnerung geblieben als Mensch, der frei lebte. 1610 haben Thomas Dekker und Thomas Middleton Mary Frith ein dramatisches Denkmal gesetzt.
Thema
Biografien wie jene von Menschen wie Frith, die innerhalb der Geschlechtervarianz keiner der beiden vermeintlich eindeutigen Positionen «männlich» und «weiblich» zugeschrieben werden wollen, sind in der Kulturgeschichte seit langem dokumentiert. Trotz der schwierigen Quellenlage sind in den Niederlanden beispielsweise im 18. Jahrhundert nachweislich etwa 200 Personen, die nicht gemäss dem ihnen zugeschriebenen Geschlecht gelebt haben, hingerichtet worden. Auch aus der Schweiz sind solche Fälle bekannt. 1586 wurde eine Person namens Barbara Brunner in Lenzburg auf dem Scheiterhaufen verbrannt, nachdem entdeckt worden war, dass sie «unter ihren Kleidern ein Mann» gewesen sei. Wenig von dem, was heute für Empörung sorgt, ist neu. Auch die Empörung nicht – und auch nicht die Unterdrückung, die sich daraus speist.
Die hektisch geführten genderpolitischen Diskussionen unserer Tage sind erstaunlich geschichtsignorant. Dem steht die Geschichte von Mary Frith entgegen. Sie ist «Transcestry», ein Beispiel für das Erinnern an die queeren Ahnen. Nicht, um in der Vergangenheit zu schwelgen, sondern um die Gegenwart anders zu verstehen.
Die derbe City Comedy um den Anti-Hero Mary Frith wirft aktuelle Fragen nach dem Verhältnis der Ge- schlechter, nach Liebe und Ökonomie, nach Sprache als Gift auf. Was auf den ersten Blick aussieht wie eine Verwechslungs- und Hochzeitsgeschichte, führt tief hinein in einen Dark Room des unterschwelligen Begehrens. Die Komödie ist bitter. Den Menschen fehlt etwas, sie können ihre Lust nicht stillen. Körper konsumieren sie wie Waren, von denen es immer mehr zu kaufen gibt. Keine*r weiss, wem sie/er/they vertraut und ob sich selbst zu trauen ist.
Und mittendrin Mary Frith, Mad Mary, Moll Cutpurse, damit beschäftigt, sich selbst zu verteidigen und anderen diese Verteidigung zu ermöglichen. In den Augen der Gesellschaft der Inbegriff der Amoral, ist they der Souverän des Geschehens, der Körper, der um seine Würde weiss und sie auch zeigt. So ist «Roaring» auch ein Stück über Theater, über soziale Performance und Selbstdarstellung. In Mary Frith überlagern sich die historische und die fiktionale Person zu einem Phantasma aus Bewunderung und Angst und Lust.
Hintergrund
Mary Frith
Mary Frith hatte viele Namen: Bürgerlich wohl Frith, später verheiratet als «Markham», genannt auch «Moll Cutpurse», «Mad Moll», «The Roaring Girl». They hatte noch viel mehr Gesichter: Geboren wohl 1584, gestorben 1659 in London, wird Frith bereits als junger Mensch aktenkundig wegen Diebstahls, daher der Übername «Cutpurse». Doch Frith brach nicht nur das Gesetz, sondern auch die Geschlechterordnung der Zeit: Kleidervorschriften, Verhaltensregeln, Berufskonventionen, an nichts hielt they sich. Frith’ Queerness war Gegenstand von urbanen Legenden, Gedichten und Theaterstücken wie Dekker und Middletons «Roaring Girl». Kein Wunder, Frith arbeitete selbst im Show Business. Rauchend und singend, mit Laute und Degen bewaffnet, spielte they sich selbst in den Strassen und den Bretterbühnen Londons. Mad Moll war eine historische Person und gleichzeitig eine Kunstfigur. They soll sogar in oder nach den Aufführungen von «Roaring Girl» im Fortune Playhouse aufgetreten sein. Ein Vergehen, das Frith später vor Gericht zur Last gelegt wurde. Frith wurde öffentlich an den Pranger gestellt, mehrmals inhaftiert und zu Zwangsarbeit verurteilt. Durch eine fingierte Heirat versuchte they, sich der Verfolgung zu entziehen. Doch Frith blieb eine Grösse der Londoner Halbwelt und machte ein kleines Vermögen als Hehler*in und Kuppler*in. Auch nach Frith’ Tod mit 74 Jahren blieb die Erinnerung an Mad Moll in der öffentlichen Wahrnehmung wach, so dass sich immer neue Legenden in dieses bis heute faszinierende Leben einschrieben.
Thomas Dekker
Thomas Dekker (um 1572 bis 1632) lebte und starb, obwohl wohlmöglich niederländischer Herkunft, in London. Er war einer der Vielschreiber des elisabethanischen und jakobäischen Theaters, angeblich weil er mit dem Schreiben seiner Schulden Herr zu werden versuchte. Dekkers Gesamtwerk wird auf über 100 Dramen und Maskenspiele geschätzt. Viele davon sind mittlerweile verloren. Bei anderen ist nicht klar, welchen Anteil Dekker daran hatte, denn er arbeitete oft mit anderen Autoren wie Ben Jonson oder John Webster zusammen. Daneben verfasste er Pamphlete, Gedichte und frühe Reportagen, nicht zuletzt aus dem Gefängnis, in das ihn seine Schulden trotz aller literarischen Anstrengungen mehrmals brachte.
Thomas Middleton
Thomas Middleton (1580 bis 1627) war einer der erfolgreichsten Dramatiker der englischen Renaissance. Ähnlich wie Shakespeare reüssierte er mit Komödien und Tragödien, was damals ungewöhnlich war. Noch heute tauchen Stücke Middletons wie «A Chaste Maid in Cheapside» oder «The Revenger’s Tragedy» in den Spielplänen von englischen und deutschen Theatern auf. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Dekker gelangte Middleton durch sein Schreiben in eine gesellschaftlich angesehene Position: Wenige Jahre vor seinem Tod wurde er zum Stadtchronisten Londons ernannt.
Umsetzung
«Roaring» ist eine deutschsprachige Erstaufführung. Sie basiert auf dem 1610 erschienen und wohl im gleichen Jahr uraufgeführten Stück «Roaring Girl» von Thomas Dekker und Thomas Middleton, welches Martin Bieri erstmals ins Deutsche übertragen hat. Das Werk erfreut sich in den englischsprachigen Ländern noch immer einer grossen Beliebtheit, die Royal Shakespeare Company hat es bereits zweimal aufgeführt – einmal mit der jungen Helen Mirren in der Hauptrolle. Auch in den Gender Studies wird der Text breit diskutiert. Auf dem Kontinent hingegen ist das Werk weitgehend unbekannt.
Im Gegensatz zum originalen Stück von Dekker und Middleton, das über 30 Rollen hat, ist die bearbeitete Übersetzung von Martin Bieri ein Solo. Gespielt wird es von Jules* Elting. Elting, ebenfalls trans non-binär, verkörpert Frith und alle anderen Figuren, die dieses aufgekratzte, sehn- und selbstsüchtige Milieu in den Strassen Londons bevölkern. Elting zeigt Frith vor Gericht und auf der Bühne, euphorisch und verzweifelt, souverän expressiv und in sich gekehrt.
Gekleidet wird dieses Wechselspiel, dieser ständige Fluss, in die Kostüme der Künstlerin Valerie Reding, die dem Stück einen hypergegenwärtigen Look geben. Ebenfalls prägend für die Ästhetik des Abends sind die Musik von Christine Hasler und das Bühnenbild von Christoph Rufer. Szenographie, Kostüme, Licht und Musik wechseln immer wieder zwischen den Zeiten und unterstreichen die aktuelle Brisanz des aufbereiteten historischen Textes.
Verantwortlich für die Regie ist Antje Schupp, die 2021 den Schweizer Theaterpreis erhalten hat.
Konzept Martin Bieri
Spiel Jules* Elting
Regie Antje Schupp
Kostüme Valerie Reding
Bühne Christoph Rufer
Musik Christine Hasler
Text Martin Bieri, Thomas Dekker, Thomas Middleton
Dramaturgie Martin Bieri
Technik & Licht Valerio Rodelli
Regiassistenz Teo Petruzzi
Öffentlichkeitsarbeit Samara Leite Walt
Visuals Lukas Beyeler & Patrick Mettraux, in Zusammenarbeit mit Valerie Reding
Produktionsleitung Ramun Bernetta
Produktion
Martin Bieri und Bernetta Theaterproduktionen
Koproduktion
Schlachthaus Theater Bern
Partnerschaft
ROXY Birsfelden, Theater Winkelwiese Zürich
Sprache Deutsch
Dauer ca. 70 Minuten ohne Pause
UA/Premiere 10. Dezember 2022, Schlachthaus Theater Bern
Quelle Text und Fotos: Bernetta Theaterproduktionen