22.8.2023 · Evianne Hübscher
Eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit scheint zu sein, dass zwar ganz viele Bereiche des menschlichen Lebens nicht binär sind, aber viele Menschen nicht ausserhalb einer engen Binarität denken können. In ihrem Buch «Life Isn’t Binary» erläutern Alex Iantaffi und Meg-John Barker, dass es viele Bereiche unseres Lebens gibt, die nicht binär sind – Sexualitäten, Geschlechter, Beziehungen, Körper, Emotionen und Denken. Zusätzlich erklären sie uns aber auch, was es für Alternativen zu binärem Denken gibt.
Binäres Denken bedeutet, dass wir meinen, für etwas gäbe es nur genau zwei mögliche Optionen und diese würden sich zwingend ausschliessen. Nach dieser Logik muss eine Person entweder gay oder straight sein, sie kann nur entweder eine Frau oder ein Mann sein. Eine Person ist entweder gesund oder krank, gut oder schlecht etc.
If we do nothing more than allow people to look beyond binary thinking, we will have made an enormous contribution to the evolution of the species.
– Raven Kaldera
Die binäre Sicht kann nicht mit Graubereichen oder Veränderungen umgehen, denn es scheint aus dieser Perspektive so, als müsste alles in zwei Optionen festgefroren sein. Dieses Thema explorieren Alex und Meg-John in ihrem Buch.
Life isn’t Binary
Von: Alex Iantaffi & Meg-John Barker
(2019, Englisch, 240 Seiten)
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Diese allgemeine Tendenz zu binärem Denken, die viele Menschen haben, wird noch dadurch «befeuert», dass in den Medien und in der Politik Themen gerne als Debatte zwischen zwei Seiten geframed werden und so organisieren sich Diskussionen zu solchen Themen oft in Gruppen von «Befürworter:innen» und «Gegner:innen». Weil diese Polarisierung so allgegenwärtig ist, scheint es uns «normal» zu sein, so zu denken. Dabei gibt es Hinweise, dass eine starke Binarisierung im Denken auch eine Folge von Traumatisierung sein kann.
In ihrem Buch zeigen Alex und Meg-John, wie verbreitet diese binäre Sicht ist – in ganz verschiedenen Bereichen: Sexualitäten, Geschlechter, Beziehungen, Körper, Emotionen und Denken.
In diesem Text halte ich mich an die Struktur des Buches und gebe einerseits die Inhalte des Buches wieder, aber gebe zusätzlich immer mal auch noch «meinen Senf dazu». Ich werde das aber auch nicht immer markieren, denn wer es genauer wissen will, was genau die Aussagen des Buches sind, soll doch das Buch lesen.
Sexualitäten
Viele Menschen können heute – zum Glück – gleichgeschlechtliche Liebe akzeptieren, auch wenn sie selbst in der Heteronorm leben. Aber sowohl unter heterosexuellen wie auch unter schwul/lesbischen Menschen gibt es viele, die ein grosses Problem mit den Konzepten Bisexualität oder Pansexualität haben. Die Vorstellung, dass Menschen verschiedene Geschlechter begehren können – das eigene, aber auch andere – scheint für sie irgendwie undenkbar. Es scheint auch so zu sein, dass deshalb nicht monosexuell lebende Menschen mehr Diskriminierungen erleben – von verschiedenen Seiten her und sogar auch im Gesundheitswesen werden sie oft diskriminiert (siehe auch: Bisexuelle Frauen haben häufiger Gesundheitsprobleme, 2023, Mannschaft).
Wenn wir den Forschungen von Kinsey glauben wollen, dann sind die meisten Menschen ein wenig bi oder pan (siehe auch Kinsey Scale, Wikipedia). Aber irgendwie scheint es schwierig für unsere Gesellschaft zu sein, mit Anziehungen umzugehen, die sich der (vermeintlichen) Binarität von Geschlecht entziehen [zu Geschlecht unten mehr, ich habe die Reihenfolge der Themen gleich gelassen wie im Buch]. Eine Buchempfehlung zu Bisexualität: «Bi – Vielfältige Liebe entdecken» von Julia Shaw (auch zu finden bei den LGB-Büchern).
Geschlechter
Auf der Ebene von Geschlecht entziehen sich non-binäres Geschlecht (mehr dazu hier) auf der Ebene der Identität und Intergeschlechtlichkeit (mehr dazu hier) auf der Ebene des Körpers einer Binarität. Von den Grundlagen über Geschlecht wissen aber, dass Geschlecht sehr viel komplexer ist, als eine einfache Binarität das erfassen kann – Geschlecht hat verschiedene Dimensionen, ist biopsychosozial usw.
Wenn wir uns länger mit dem Thema Geschlecht befassen (bewusst in der Unschärfe, die der Begriff in der deutschen Sprache hat), ist es absolut lächerlich, dass dieses nur zwei Ausprägungen haben sollte. Die Tatsache, dass es nur zwei Arten von Gameten gibt und es für sexuelle Fortpflanzung genau zwei verschiedene «Zutaten» braucht, steht in keiner Weise im Widerspruch zu der Diversität von Geschlecht – ausser mensch argumentiert auf einer «wissenschaftlichen Basis», die ein sehr tiefes Niveau hat. Denn was wir in der Schule lernen, ist oft in der Realität um ein paar Dimensionen komplexer. Peinlich ist nur, dass manchmal auch Leute mit einem Uni-Abschluss so argumentieren. Keine wissenschaftliche Disziplin hat ein Vorrecht auf Geschlecht – nicht die Biologie, aber auch nicht die Psychologie oder die Soziologie.
Wenn wir die zwei Geschlechter «Frau» und «Mann» anschauen, ist auch spannend zu sehen, dass diese oft so definiert sind, dass sie das Gegenteil voneinander sind. Männlichkeit ist dadurch definiert, nicht weiblich zu sein und umgekehrt. Aber alle wundern sich, warum Frauen und Männer nach Jahrhunderten dieses «Erfolgsmodells» immer noch hauptsächlich miteinander streiten (einige loben dann wenigstens noch den grossartigen Versöhnungssex).
Im Bereich Geschlecht ist wohl auch cis/trans eine Binarität, die einer genaueren Betrachtung oft nicht standhält. Wo hört Cisgeschlechtlichkeit auf und wo beginnt Transgeschlechtlichkeit. Viele non-binäre Menschen oder Personen, die auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität sind, wissen, wie schwierig es ist, diese Grenze zu ziehen. Zwar sind non-binäre Menschen einerseits «per Definition trans» (weil sie sich ja – basierend auf der Definition von non-binärem Geschlecht – nicht mit ihrem zugewiesenen Geschlecht identifizieren [das gilt mindestens für die Schweiz, wo es hier nur zwei Optionen gibt]) und trotzdem gibt es viele, die sich nicht als trans identifizieren (was auch unbedingt zu respektieren ist). Aber eben, auch diese Binarität geht nicht wirklich auf.
Beziehungen
Auch bei Beziehungen gibt es viele Binaritäten, die nicht wirklich funktionieren: zusammen/Single, romantisch/sexuell, etc. Bei uns scheint Liebe so etwas monolithisches zu sein und im antiken Griechenland gab es mindestens sechs davon (Eros, Philia, Agape, Storge, Ludus, Pragma). Das ist ja fast ähnlich wie bei den LGBTQIA+ Labels. Oder auch die Binarität der Liebe zu uns selber gegenüber der zu anderen Menschen ist hier zu nennen.
Im Bereich der Beziehungen ist auch eine grosse Binarität, dass «wir» gegen die «anderen» – sei das im Fussball, in der Politik, in Kriegen etc. Die Menschheit hat immer genug Gründe gefunden sich gegenseitig aufs Dach zu geben, sei das wegen: Reichtum, Clans, Landbesitz, Religionen, Hautfarbe, Sexuelle Orientierung, Geschlecht, … alles was halt für eine Binarität taugt. Auf einer vereinfachten Formel können wir auch postulieren: Binarität = Krieg. Das wusste auch schon John Lennon.
Körper
Um die geschlechtliche Dimension von Körpern ging es oben schon. Aber der Körper hat ja auch noch andere Aspekte. Generell stellt sich die Frage, was es für Normen in Bezug auf Körper gibt. Welche Körper haben sich «richtig» entwickelt? Welche Körper haben ein «ideales» Gewicht etc.? Unsere Gesellschaft und auch u.a. die Medizin versuchen immer wieder so zu tun, als würde es hier klar definierte Grenzen geben und vor allem als wäre es sinnvoll diese zu ziehen. Im Namen von diesem sinnlosen Unterfangen wird viel unnötiges Leid produziert. Hier wäre wohl der Spruch «danke für nichts» passend.
Weil auch eine vermeintliche Binarität zwischen Körper und Geist (oder Emotionen etc.) postuliert wird hat einerseits die Medizin Mühe zu verstehen was die Rolle von Psychosomatik ist und die Psychologie auf der anderen Seite findet erst jetzt ganz langsam heraus, was der Körper für eine zentrale Rolle im Bereich von z.B. Traumatisierung spielt. Weil an Universitäten Professoren (absichtlich männlich gegendert) für ihre binären Gärtchen kämpfen, müssen Menschen leiden.
Emotionen
Im Bereich der Emotionen gibt es auch viele Binaritäten. Der Klassiker: gut/schlecht. Die guten Emotionen ins Töpfchen und die schlechten Emotionen ins Kröpfchen – oder wie war das? Wer sich auf eine Reise von Selbsterfahrung begibt, findet schnell heraus, dass das keine produktive Art ist, über Emotionen nachzudenken – auch wenn Moses & Co. offenbar noch dieser Meinung waren.
Spätestens seit den Forschungen von António Damásio wissen wir aus den Neurowissenschaften, dass die Abgrenzung von «emotional» und «rational» Unsinn ist. Seine Forschungen zeigen, dass wir ohne Emotionen keine guten rationalen Entscheidungen treffen können. Sehr rational und wenig emotional zu sein, wird in unserer Gesellschaft oft mit Überlegenheit in Verbindung gebracht. Es ist also nicht nur Binarität, sondern auch eine Hierarchie.
Weitere Binaritäten sind: Positive vs. negative Gefühle, Scham vs. Stolz, etc.
Denken
Im Bereich des Denkens ist auffällig, wie das Binäre Denken immer alles als eine Debatte zwischen zwei Seiten framen will. So wird das dann auch in den Medien und in der Politik gemacht. Das führt dann oft auch zu Polarisierung.
The first step to conflict frequently – if not always – involves framing something as a debate between two positions, one of which is assumed to be «right» and the other «wrong».
Diskussionen werden oft mit «Befürworter:innen» und «Gegner:innen» geframed. Es geht darum wer dafür ist und wer dagegen ist und wer am Schluss «gewinnt». Dieser Reflex, alles als eine Debatte zu framen, führt dann auch in den Medien dazu, dass zu jedem Thema auch «die andere Seite» eingeladen wird. Das macht den Anschein von Ausgewogenheit und somit Objektivität. Aber der wahre Grund ist wohl, dass es sich dadurch besser streiten lässt ohne Aussicht auf wirkliche Einigung und das ist gut für die Einschaltquoten/Klicks etc.
In den Natur-/Wissenschaften gab es auch die bekannteste der Binaritäten – die «Nature vs. Nurture Debatte» (Frage, ob z.B. psychologische Eigenschaften nun nur durch Genetik oder Umfeld bestimmt werden). In dieser Diskussion wurde dann ernsthaft endlos diskutiert, was denn nun der Treiber von Eigenschaften etc. wäre, ohne darauf zu kommen, dass hier beide Einflüsse gleichzeitig relevant sein könnten.
Alternativen zu binärem Denken
Was sind denn nun Alternativen zum binären Denken? Viele Menschen denken ihr Leben lang in diesen binären Schienen und kommen da fast nicht mehr raus. Wie könnte das also gehen?
We can take a pause, a breath, and notice that a third road is usually there.
Möglichkeiten von non-binärem Denken sind das Erfassen des Zwischendurch und des sowohl-als-auch. Eine bessere Möglichkeit, über «gut» oder «schlecht» nachzudenken, ist, dass wir sagen etwas «öffnet» Dinge für uns oder etwas «verschliesst» sie. Auch wichtig im Zusammenhang mit non-binärem Denken ist das willkommen heissen von Unsicherheit. Nicht zu wissen, kann eine ganz grosse Chance sein, denn wenn wir nicht wissen, dann hören wir vielleicht auch wirklich zu und sind neugierig. Dies sind aber Eigenschaften, die z.B. Politiker:innen grundsätzlich nicht haben dürfen. Sie müssen immer alles wissen und wozu das führt, sehen wir. Multiversale Perspektiven erlauben es uns, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.
Wenn wir das nicht gut können, können wir es doch fortwährend üben und uns immer wieder fragen «gibt es hier noch eine andere Möglichkeit»? Gibt es einen dritten Weg? Wenn wir über uns selbst non-binär denken lernen, können wir auch aus der perfektionistischen Perspektive herauskommen, dass wir immer alles wissen und richtig machen müssen.
Ansätze zu «plural selves» werden in verschiedenen therapeutischen Ansätzen erfolgreich angewendet. Dabei wird davon ausgegangen, dass wir in unserem Inneren mehrere Anteile haben, die ihre eigenen Perspektiven haben und sich dann aber auch gegenseitig in die Quere kommen können. Es wird angenommen, dass z.B. bei Traumatisierungen in der Kindheit solche Anteile entstehen. Wenn wir in therapeutischer Arbeit solche Anteile zu entdecken beginnen, wird uns klar, dass wir in uns verschiedene Kräfte haben, die ganz unterschiedliche Motivationen haben. Weil aber die meisten Menschen das nicht wissen, deuten wir das Verhalten der anderen immer nur als total irrational. Aber aus der Sicht dieser Anteile sind sie das eben nicht. Nur sind es eben verschiedene Perspektiven.