Um non-binäres Geschlecht verstehen zu können, ist es wichtig die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht zu kennen und auseinanderhalten zu können.
Die meisten Menschen denken, Geschlecht sei etwas ganz simples – ein «W» oder ein «M» und damit hat es sich. Der Rest ist dann «gegeben». Aber so simpel ist es nicht einmal im einfachsten Fall. Sehr oft werden auch die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht vermischt. So ist es aber nicht möglich, non-binäres Geschlecht wirklich zu verstehen.
In unseren westlichen Gesellschaften gibt es oft nur zwei Ausprägungen von Geschlecht: weiblich und männlich. Deshalb können in der Schweiz die Lebensrealitäten non-binärer Menschen eine grosse Herausforderung sein. Es gibt aber viele traditionelle Kulturen (siehe Map of gender-diverse cultures), in denen es mehr als zwei Geschlechterkategorien gibt (z.B. Two Spirits bei den amerikanischen Ureinwohnern oder den Mahu in Hawaii).
Wichtige Punkte zu den Grundlagen
1Geschlecht kann in mindestens fünf Dimensionen unterteilt werden: Körper, Identität, Ausdruck, Anziehung und Rolle. Wir könnten auch noch in mehr Teilaspekte aufteilen aber diese fünf sind die wesentlichsten. Zu jeder Dimension können wir normative und expansive Ausprägungen benennen (z.B. cisgender vs. transgender).
2Wenn wir diese Dimensionen nicht auseinanderhalten können, werden wir non-binäres Geschlecht nicht verstehen können. Die einzelnen Dimensionen sind unabhängig voneinander, wenn sich aber die verschiedenen Dimensionen auch überschneiden (z.B. kann eine Person intergeschlechtlich und non-binär sein) und somit gegenseitig beeinflussen können. Wir müssen immer genau überlegen auf welche Dimension wir uns jeweils wirklich beziehen.
3Non-binäres Geschlecht hat nur mit der Identität einer Person zu tun. Non-binäres Geschlecht ist eine Geschlechtsidentität und auch ein Überbegriff für verschiedene Geschlechtsidentitäten. Das Aussehen, die Beschaffenheit des Körpers oder die Sexualität einer non-binären Person ändert nichts an ihrer Non-Binarität.
Das Geschlechter-Radar – fünf Dimensionen von Geschlecht
Geschlecht ist nicht so simpel, wie uns oft weis gemacht wird. Geschlecht ist biopsychosozial, d.h. Geschlecht hat biologische, psychologische und soziale Aspekte. Um die daraus entstehende Vielfalt besser verstehen zu können, ist es wichtig die folgenden fünf Dimensionen auseinanderzuhalten: Körper, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck, Anziehung und Geschlechterrolle. Geschlecht kann auch in mehr Teilaspekte zerlegt werden aber diese hier sind die wesentlichsten.
Das hier verwendete Geschlechter-Radar ist eines von vielen Modellen zu den verschiedenen Dimensionen von Geschlecht (Quelle: geschlechter-radar.org). Andere ähnliche Modelle sind z.B. das Gender Unicorn oder die Genderbread Person.
Die fünf Dimensionen sind unabhängig voneinander. Ausprägungen in einer Dimension bei einer Person sagen nichts aus über die anderen Dimensionen. Aber die Dimensionen können sich natürlich auch überschneiden (z.B. kann eine Person intergeschlechtlich und non-binär sein) und somit auch gegenseitig beeinflussen.
Körper: Unsere Gesellschaft macht Geschlecht an verschiedenen körperlichen Aspekten fest: äussere Geschlechtsorgane, innere Geschlechtsorgane, Keimdrüsen, Hormone, Chromosomen und weitere sekundäre Geschlechtsmerkmale.
Geschlechtsidentiät: Das ist das Wissen, welches ein Mensch über sich selber hat, einem bestimmten Geschlecht anzugehören bzw. nicht anzugehören. Eine zentrale Frage in diesem Zusammenhang ist, ob die Person sich mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren kann oder nicht.
Ausdruck: Beim Geschlechtsausdruck geht es um das Äussere einer Person in Bezug auf Geschlecht. Relevante Aspekte sind: Kleider, Frisur, Styling, Stimme, Art der Kommunikation, Gesichtsbehaarung, Körperformen, Körpersprache, etc. Diese Aspekte sind in unserer Gesellschaft stark mit Geschlecht assoziiert (gegendert). Zum Ausdruck können wir auch den Namen und die Pronomen einer Person zählen.
Anziehung: Eigentlich hat Anziehung nichts mit Geschlecht im engeren Sinne zu tun. Da es aber in unserer Gesellschaft einen grossen Unterschied macht, was die Personen in einer intimen Beziehung für ein Geschlecht haben (unsere Gesellschaft ist sehr heteronormativ), wird die sexuelle Orientierung hier doch sehr relevant.
Rolle: In unserer westlichen Gesellschaft haben sich basierend auf u.a. Geschlechterstereotypen über die Zeit bestimmte Geschlechterrollen gebildet. Das heisst, es bestehen Erwartungen (ausgesprochen oder nicht), wie sich «Angehörige eines Geschlechts» zu verhalten haben. Besonders spürbar sind Geschlechterrollen in Beruf, Familie und Beziehungen.
Normative und expansive Ausprägungen
Non-binäre Menschen sind Teil des LGBTQIA+ Spektrums. Um die verschiedenen Facetten dieses Spektrums besser auseinanderhalten zu können, ist es hilfreich die Dimensionen des Radars genauer anzuschauen. Zu jeder Dimension können wir «normative Ausprägungen» (entsprechen der gesellschaftlichen Norm) und «expansive Ausprägungen» (erweitern die gesellschaftliche Norm) benennen. Die Teile von LGBTQIA+ entsprechen dabei den expansiven Ausprägungen.
LGBTQIA+: Die Buchstaben stehen für verschiedene (englische) Begriffe: Sexuelle Orientierungen: L = lesbisch, G = schwul (gay), B = bisexuell, A = asexuell; Geschlecht: T = transgeschlechtlich, I = intergeschlechtlich; Übergeordnet: Q = queer oder auf der Suche (questioning) , + = weitere Die Abkürzung gibt es in verschiedenen Varianten – mit unterschiedlich vielen Buchstaben und unterschiedlichen Reihenfolgen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass es Menschen gibt, die sich in nur einem Bereich von Geschlecht im Expansiven bewegen und sonst sehr normativ sind. Es gibt aber auch Menschen, die in allen Bereichen sehr expansiv sind – sowie alle Schattierungen dazwischen. Alle Kombinationen sind möglich.
Dabei hat non-binäres Geschlecht nur etwas mit der Geschlechtsidentität einer Person zu tun. Die anderen Dimensionen haben also keinen Einfluss auf ihre Non-Binarität. Die Dimensionen sind unabhängig voneinander! Dieser Punkt muss immer wieder wiederholt werden, denn viele Leute können sich fast nicht davon befreien hier Abhängigkeiten zu sehen die nicht existieren.
Die verschiedenen Dimensionen von Geschlecht sind:
Körper
Unsere Gesellschaft hat enge Normen bezüglich: äussere Geschlechtsorgane, innere Geschlechtsorgane, Keimdrüsen, Hormone, Chromosomen und weitere sekundäre Geschlechtsmerkmale.
Endogeschlechtliche Menschen (auch dyadisch genannt) haben Körper, die einer gesellschaftlichen Norm von Zweigeschlechtlichkeit entsprechen (basierend auf der Annahme es würde nur männlich oder weiblich geben).
Obwohl die biologische Grundlagenforschung schon länger zum Schluss gekommen ist, dass diese binäre Sicht auf den Körper nicht haltbar ist (siehe Artikel in Nature [ENG], 2015), ist sie in der Gesellschaft immer noch weit verbreitet.
Intergeschlechtliche Menschen haben Körper, die nicht den sozialen Normen und Erwartungen von «männlich» oder «weiblich» entsprechen. Solche angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale können den Chromosomensatz, die Hormone und/oder äussere und/oder innere Geschlechtsmerkmale betreffen.
Es gibt verschiedene Variationen, das sind u.a.: «Adrenogenitales Syndrom (AGS)», «Hypospadie», «Turner Syndrom», «Gonadendysgenesien», «Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser (MRKH)», «Klinefelter», «Androgeninsensitivität (CAIS, PAIS, MAIS)» und viele weitere. Leider besteht in unserem Gesundheitssystem immer noch die menschenrechtswidrige Praxis, dass in vielen Fällen bei Neugeborenen eine Angleichung an eines der binären Geschlechter vorgenommen wird, obwohl diese Eingriffe in fast allen Fällen medizinisch nicht nötig wären. Organisationen wie InterAction setzen sich dafür ein, dass solche «Intersex Genital Mutilations» (IGM) aufhören.
Mehr zu Intergeschlechtlichkeit >
Identität
Ob sich eine Person mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren kann oder nicht, sagt etwas über ihre Geschlechtsidentiät aus.
Cisgender Menschen können sich mit dem ihnen bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Es kann sein, dass cis Menschen in anderen Bereichen nicht sehr normativ leben (z.B. traditionelle Rollen stark ablehnen oder einen sehr nonkonformen Ausdruck haben), aber sie identifizieren sich doch mit ihrem Geburtsgeschlecht.
Transgender Menschen sind nicht einverstanden mit der Zuschreibung ihres Geschlechts bei Geburt. Sie wissen, dass sie ein anderes Geschlecht sind. Trans Menschen können sich binär verstehen (als trans Frau oder trans Mann) oder als non-binäre Person (ein Überbegriff für ganz viele Geschlechtsidentitäten ausserhalb der Binarität Frau/Mann – mehr dazu bei Non-binäres Geschlecht). Non-binäre Menschen können sich als trans identifizieren oder auch nicht, aber nach der hier verwendeten Definition fallen sie auf jeden Fall unter den «Trans Schirm».
Die folgende Tabelle listet die verschiedenen Begriffe auf, wie wir über trans Menschen reden können – wenn auch die Selbst-Bezeichnung der einzelnen Menschen sehr unterschiedlich sein kann. In gewissen Ländern könnte die Geschlechtszuschreibung auch divers o.ä. sein.
Zugeschriebenes Geschlecht | Geschlechts Identität | Bezeichnung spezifisch | Bezeichnung allgemein | Selbst-Bezeichnung |
---|---|---|---|---|
weiblich | männlich | trans Mann | Mann | Mann, trans Mann, männlich usw. |
männlich | weiblich | trans Frau | Frau | Frau, trans Frau, weiblich usw. |
weiblich oder männlich | non-binär | non-binäre Person | Person | Person, non-binäre Person, agender, genderfluid usw. |
Ob trans Menschen auch eine Transition (Angleichung an ihre Geschlechtsidentität) machen oder nicht, spielt in diesem Zusammenhang überhaupt keine Rolle.
Ausdruck
Kleider, Frisur, Styling, Stimme, Art der Kommunikation, Gesichtsbehaarung, Körperformen und Körpersprache sind in unserer Gesellschaft stark mit Geschlecht assoziiert (gegendert). Diese Regeln sind aber auch regional verschieden und massivem Wandel ausgesetzt. Vor einiger Zeit galten High-heels, Nagellack, Lippenstift und Perücken als ausgesprochen männlich und Rosa war die Farbe von Jungs.
Ein nicht der Norm entsprechender Geschlechtsausdruck führt öfter zu diskriminierenden Reaktionen als die anderen Dimensionen von Geschlecht. Entscheidend ist dabei aber auch, als welches Geschlecht eine Person «gelesen» wird (sog. Gender-Attribution).
Gender-konforme Menschen haben ein Äusseres, welches sich innerhalb der gesellschaftlichen Normen in Bezug auf Geschlecht bewegt. Interessant ist hier, dass diese Grenzen für «männlich» gelesene Menschen sehr viel enger verlaufen als für Menschen, die als «weiblich» wahrgenommen werden.
Gender-nonkonforme Menschen entsprechen äusserlich nicht den gesellschaftlichen Normen. Einige von ihnen bemühen sich aktiv um Expansion, weil sie sich diesen Regeln nicht unterordnen wollen oder weil es Teil ihrer Identität ist. Es gibt aber auch Menschen, die nicht freiwillig ein gender-nonkonformes Äusseres haben.
Wenn bei trans Menschen, intergeschlechtlichen Menschen oder auch endo-cis Menschen sekundäre Geschlechtsmerkmale stark ausserhalb der Norm sind – in Bezug auf das Geschlecht als welches sie wahrgenommen werden – dann müssen diese z.T. einen sehr grossen Aufwand betreiben, um in die Norm passen zu können.
Mehr zu Gender-Nonkonformität >
Anziehung
Da es in unserer Gesellschaft einen grossen Unterschied macht, was die Personen in einer intimen Beziehung für ein Geschlecht haben, werden die sexuelle und romantische Orientierung auch relevant für unser eigenes Geschlecht bzw. wie wir wahrgenommen werden. Dies hat auch viel zu tun mit gesellschaftlichen Erwartungen an die Geschlechterrolle.
Für die verschiedenen expansiven Variationen von sexueller und romantischer Anziehung gibt es unterschiedliche Begriffe. Deshalb ist es schwierig, einen passenden Oberbegriff zu finden. So wird im Geschlechter-Radar das Gegensatzpaar «hetero» (normativ, heterosexuell) und «queer» (expansiv, nicht heterosexuell) verwendet. Zwar lässt sich der Begriff «queer» (frei übersetzt «schräg») auch auf andere Dimensionen anwenden (z.B. genderqueer). Aber hier wird er im Sinne von «queerer Anziehung» verwendet.
Hetero Menschen bzw. heterosexuelle Menschen spüren sexuelle und romantische Anziehung gegenüber dem «anderen» Geschlecht (unter der Annahme es würde nur zwei Geschlechter geben).
Queere Menschen haben unterschiedliche Arten sich zu definieren. Es gibt z.B. Menschen, die definieren sich als lesbisch oder schwul (gleichgeschlechtlich oder homosexuell) und andere als bisexuell oder pansexuell (von mehreren Geschlechtern angezogen). Ob sie sich selber auch als queer bezeichnen oder nicht, ist individuell verschieden.
Gut ist auch zu wissen, dass sexuelle und romantische Anziehung nicht dasselbe sind (d.h. sie können unterschiedlich sein) und gewisse Menschen verspüren gegenüber keinem Geschlecht eine Anziehung (asexuelles / aromantisches Spektrum).
Rolle
Vor allem in den Bereichen Beruf, Familie und Beziehungen gibt es in unserer Gesellschaft Erwartungen (ausgesprochen oder nicht), wie sich «Angehörige eines Geschlechts» zu verhalten haben. Ein Abweichen von diesen Rollen wird oft bestraft durch Ausgrenzung oder manchmal sogar auch mit Gewalt. In vielen Bereichen gibt es «gläserne Wände oder Decken» (z.B. gegen weibliche CEOs).
Menschen mit traditionellen Rollenbildern orientieren sich in ihrem Leben an diesen Regeln.
Die Regeln sind aber oft so internalisiert, dass die Menschen sich gar nicht wirklich aktiv «an Regeln halten» müssen, sondern denken, das wären ihre natürlichen Präferenzen. Natürlich gibt es aber auch Menschen, die diese Regeln sehr gründlich reflektiert haben und sich aber trotzdem innerhalb der Norm am wohlsten fühlen.
Menschen mit feministischen Rollenbildern brechen aus den traditionellen Rollenvorstellungen aus, weil diese Vorstellungen vor allem Frauen diskriminieren und non-binäre Geschlechter sowieso. Aber auch viele Männer leiden unter den traditionellen Rollenbildern.
Sie müssen sich auf Repressionen gefasst machen. Oft werden sie von systemischen und persönlichen Diskriminierungen getroffen. Wie auch beim Geschlechtsausdruck ist es so, dass diese Grenzen für «männlich» gelesene Menschen anders verlaufen als für Menschen, die als «weiblich» wahrgenommen werden.
Weitere Aspekte von Geschlecht
Wie oben erwähnt können wir noch weitere Facetten von Geschlecht benennen:
- Gender (Oberbegriff): soziales Geschlecht
- Zugeschriebenes Geschlecht: bei Geburt «festgestelltes» Geschlecht (auch Hebammengeschlecht)
- Amtliches Geschlecht: Eintrag in Personenstandsregister, Pass etc.
- Gender-Definition (Selbstbeschreibung): Label welches jemand sich selber gibt in der Interaktion mit anderen
- Gender-Attribution (Fremdbeschreibung): als was «sehen» (lesen) mich die anderen
- Gender-Stereotypen: allgemein verbreiteten Vorstellungen, was eine «typische Frau» oder einen «typischen Mann» ausmacht etc.
Mehr zu weiteren Aspekten von Geschlecht >
Vertiefungen zu den Grundlagen zum Thema Geschlecht
Weitere Quellen
- Geschlechter-Radar (von Evianne Hübscher – inkl. Downloads Merkblatt etc.)
- Gender Unicorn (von Trans Student Educational Resources – inkl. Interactive, Coloring Book etc.)
- Genderbread Person (von Sam Killermann – inkl. Downloads Worksheet etc.)
- InterAction
- Transgender Network Switzerland (TGNS)
- Studie: Mehr als Schwarz und Weiss – repräsentativen Befragungsstudie von #geschlechtergerechter und Sotomo. Die Studie zeigt, wie die Schweizer Bevölkerung das Spannungsfeld von Geschlecht und Identität erlebt und wahrnimmt.
Text von: Evianne Hübscher
Erste Veröffentlichung: 2016 | Total Update: 23.7.2021 | Letztes Update: 20.11.2024