Was sind die Lebensrealitäten non-binärer Menschen? Wer problemlos in die strikte Zweigeschlechtlichkeit unserer Schweizer Gesellschaft passt, kann sich manchmal nicht vorstellen, wie sich die vielen strukturellen Diskriminierungen sowie ständige individuelle Diskriminierungen im Alltag anfühlen und wie diese dann auf die psychische und körperliche Gesundheit drücken können.
Starke Binärnormativität in unserer Gesellschaft
Obwohl wahrscheinlich in der Schweiz ca. 130’000 Menschen mit non-binärer Geschlechtsidentität leben (Bericht der Nationalen Ethikkommission, 2020), ist in unserer Gesellschaft die Norm der Zweigeschlechtlichkeit noch sehr stark verbreitet. Das heisst, dass viele Menschen davon überzeugt sind, dass es nur zwei Geschlechter geben kann. Diese Überzeugung kann dann bis zu einer stark ausgeprägten Nonbinär-Feindlichkeit gehen.
Wie sollte dir der Schmerz, den du erleidest, geglaubt werden, wenn die Menschen nicht einmal glauben, dass du existierst?
– Alok Vaid-Menon
Wegen dieser tief verankerten Norm ist auch unsere Gesellschaft sehr stark auf zwei Geschlechter ausgelegt und die Forderung nach der Inklusion von non-binären Menschen stösst immer noch bei vielen Leuten auf Ablehnung, weil sie meinen, non-binäres Geschlecht würde es gar nicht «wirklich» geben.
Binarismus
Der Begriff Binarismus (oder Binärnormativität) bedeutet, dass Menschen davon ausgehen, dass es nur genau zwei Geschlechter geben kann. Diese Behauptung wird oft begründet mit der Tatsache, dass es nur zwei Arten von Gameten gibt (Eizellen oder Spermien). Warum diese Tatsache dann aber das ganze soziale Konzept von Geschlecht beeinflussen sollte, können sie nicht erklären. Die Tatsache, dass es in der Geschichte sehr viele Kulturen gab und gibt, die mehr als zwei Geschlechter kennen (siehe auch A Map of Gender-Diverse Cultures, 2015), ist diesen Personen meist nicht bekannt (das wird in den Schulen leider meist nicht gelehrt).
Daraus entstehen dann manchmal: Enby-Feindlichkeit, Nonbinär-Feindlichkeit, Non-binaryphobia, Enbyphobia, Exorsexism («binärer» Sexismus) [abgeleitet von XOR-Funktion aus der Logik] oder nonbinary erasure [Unsichtbarmachung non-binärer Menschen].
Cissexismus oder Cisnormativität
Unter Cissexismus verstehen wir die Vorstellung, dass es «normal» sei, sich mit dem bei Geburt zugeschriebenen Geschlecht zu identifizieren und ein Nicht-Identifizieren damit (d.h. trans-Sein) minderwertig sei.
Geschlechter-Stereotypen
In unserer Gesellschaft bestehen viele von Geschlecht abgeleitete Stereotypen. Diese existieren am stärksten in den Bereichen von Kleidung (Ausdruck) und Kommunikation. Viele Menschen sehen es als «natürlich» an, dass Frauen rosa mögen und Männer blau bevorzugen sollten. Die Tatsache, dass im 18. Jahrhundert rosa, als eine «männliche» Farbe galt (das «kleine Rot» – mit Assoziationen zu Blut und Kampf), ist vielen nicht bekannt. Ebenso, dass Stöckelschuhe für männliche Adelige entwickelt wurden zur Zeit von Louis XIV, also im 17./18. Jahrhundert. Das zeigt auf, dass diese Stereotypen sozial konstruiert sind.
Heteronormativität
Unsere Gesellschaft ist stark geprägt von heteronormativen Vorstellungen, die davon ausgehen, dass es nur zwei Geschlechter gibt und die heterosexuelle (gegengeschlechtliche) die «natürliche» Form von Anziehung ist. Durch religiöse Einflüsse, patriarchale Strukturen etc. wurde diese Norm über die Zeit gefestigt.
Internalisierte Trans- und Enby-Feindlichkeit
Viele Menschen in unserer Gesellschaft – auch non-binäre selbst – haben internalisierte Trans- und Enby-Feindlichkeit. Das bedeutet, dass sie unbewusst non-binär-Sein als minderwertig ansehen. Diese negative Bewertung wird auch dadurch aufrechterhalten, dass es immer wieder Negativbewertungen durch das Umfeld, Sanktionen, Ausschlüsse, Mobbing und Gewalterfahrungen gibt. Dazu werden – vor allem in Politik, Medien und dem medizinischen Bereich – Pathologisierungen von non-binären Menschen immer noch wiederholt. Eine negative mediale Berichterstattung und wenig Repräsentation in Filmen, Büchern etc. tragen weiter dazu bei, dass non-binär-Sein nicht als «normal» gesehen werden kann. Dies erschwert auch bei non-binären Menschen eine Selbstakzeptanz, was auf den Selbstwert und psychische Gesundheit drückt und Coming-out sowie Transition erschwert.
Gender-Dysphorie
Viele non-binäre Menschen erleben sog. Gender-Dysphorie. Das bedeutet ein starkes «Unwohlsein» gegenüber dem zugeschriebenen Geschlecht. Das Unwohlsein kann einen körperlichen, sozialen und/oder kognitiven Ursprung haben. Das ist der Grund, warum soziale und medizinische Transitionen helfen, diese Belastung zu mindern. Die stark negativen Bewertungen von Aussen befeuern dieses schwierige Verhältnis von vielen non-binären Menschen zu ihrem Körper bzw. sozialen Geschlecht.
Coming-out
Wenn non-binäre Menschen ihr Geschlecht authentisch leben möchten, müssen sie zuerst ein Coming-out machen, d.h. sie müssen ihrem Umfeld anvertrauen, dass sie sich mit einem anderen Geschlecht identifizieren, als ihnen bisher zugeschrieben wurde und es auch nicht das andere binäre Geschlecht ist. Diese Coming-outs sind in der Regel ein Leben lang nötig und stellen auch eine stetige Belastung dar, die auch mit einer Transition nicht weggeht. Zudem müssen non-binäre Menschen bei ihren Coming-outs meist erklären, dass es sie und Non-Binarität wirklich gibt sowie einen Kurs in inklusiver Sprache geben.
Um die eigene Transgeschlechtlichkeit aber überhaupt realisieren zu können, braucht es zuerst die entsprechende Selbsterkenntnis (das sog. innere Coming-out). Internalisierte Transphobie kann hier auch im Weg stehen.
Mehr zum Thema: Coming-out
Transition
Beim Prozess der Transition handelt es sich um eine Angleichung des Äusseren an ein Gefühl der eigenen Geschlechtlichkeit. Transitionen finden auf verschiedenen Ebenen statt: sozial, rechtlich und medizinisch.
Non-binäre Menschen haben oft viel mehr Unsicherheiten bezüglich Transitionsschritten als binäre trans Personen, weil es meistens viel weniger klar ist, wohin «die Reise gehen soll». Unsicherheiten und Ambivalenzen (sich widersprechende Wünsche, Gefühle und Gedanken) sind dabei völlig ok.
Mehr zum Thema: Transition für non-binäre Menschen
Soziale Transition
Bei der sozialen Transition geht es darum, dass eine Person beginnt, andere Namen und Pronomen zu nutzen, andere Kleidung zu tragen sowie sich anders zu stylen. Dadurch kann in der Gesellschaft kommuniziert werden, zu einem anderen Geschlecht zu gehören. Je nach Umfeld kann das das «Problem lösen», d.h. das Umfeld akzeptiert das Geschlecht und die Person wird fortan in der gewünschten Art behandelt. In einem weniger akzeptierenden Umfeld kann das aber zu Problemen führen, weil die Menschen im Umfeld das Geschlecht nicht akzeptieren wollen.
Rechtliche Transition
Bei der rechtlichen Transition geht es darum, dass der Staat das gewählte Geschlecht und Namen akzeptiert. Sind diese im Personenstandsregister geändert, werden die Personen dann i.d.R. von amtlichen Stellen auch korrekt angeschrieben etc. In der Schweiz ist eine binäre rechtliche Transition seit 2022 relativ einfach zu machen. Aber non-binäre Optionen gibt es bis dato noch nicht.
Mehr zum Thema: Recht und non-binäres Geschlecht
Medizinische Transition
Unter medizinischer Transition verstehen wir eine körperliche Angleichung an die Geschlechtsidentität durch Hormone, Operationen etc. Ob non-binäre Menschen medizinische Massnahmen für sich in Anspruch nehmen oder nicht, ist individuell verschieden und hängt auch davon ab, wie stark sie von körperlicher Dysphorie belastet sind. Gerade für non-binäre Menschen kann eine medizinische Transition deshalb eine noch grössere Belastung sein, weil ihnen oft von Fachpersonen ihre Identität abgesprochen wird (siehe auch unten) und es mit einer non-binären Identität oft schwieriger ist, von Krankenkassen Behandlungen bezahlt zu bekommen.
Strukturelle Diskriminierungen
Um die Belastungen nachvollziehen zu können, die non-binäre Menschen erleben, sollte u.a. verstanden werden, was es für strukturelle Diskriminierungen in Bezug auf non-binäres Geschlecht in der Schweizer Gesellschaft gibt. Am grundlegendsten ist dabei die fehlende rechtliche Anerkennung von non-binärem Geschlecht (siehe: Geschlechtseintrag). Weiter sind non-binäre Menschen in der deutschen Sprache bis jetzt grundsätzlich nicht vorgesehen. Weiter sind auch viele bauliche, technische und soziale Strukturen an den binären Geschlechtern ausgerichtet.
Eine Liste von einigen strukturellen Diskriminierungen non-binärer Menschen:
- Kein 3. Geschlechtseintrag, offiziell nicht existent/anerkannt
- Keine Neopronomen und alternative Anreden im Deutschen
- Unsichtbar gemacht bis ausgelöscht – aktuell instrumentalisiert
- Infrastruktur: WCs, Garderoben etc.
- In Gruppen, Kursen, Sport meist vergessen
- Fehlende Repräsentation in Büchern, Filmen, News, wichtigen gesellschaftlichen Positionen etc.
- «Nicht genug trans» – infrage gestellt auch im Gesundheitssystem
- Probleme bei Arbeits- und Wohnungssuche
Diskriminierungen im Alltag
Nebst Diskriminierungen auf struktureller Ebene erleben non-binnäre Menschen auch viele Diskriminierungen im Alltag: Misgendering, Deadnaming, Outing und subtilere Formen der Diskriminierung – manchmal auch «Mikroaggressionen» genannt.
Diskriminierung im persönlichen Umgang
Die Diskriminierungen von non-binären Menschen im persönlichen Umgang sind vor allem:
- Misgendering: einer Person ein Geschlecht zuschreiben, mit dem sie sich nicht identifiziert
- Deadnaming: einen alten (nicht mehr benutzte) Namen einer Person benutzen
- Fremdouting: gegen den Willen einer Person bekannt machen, dass diese non-binär ist
Misgendering
Misgendering heisst: «einer Person ein Geschlecht zuschreiben, mit dem sie sich nicht identifiziert». Ein Misgendering kann auf verschiedenen Ebenen passieren – mit Sprache, Formularen etc. Auf der sprachlichen Ebene sind neben Pronomen und Anreden auch gegenderte Personenbezeichnungen (z.B. Buchhalterin), Begrüssungen (z.B. meine Damen und Herren) usw. relevant. Für die meisten non-binären Personen ist Misgendering sehr verletzend und kann sie sehr negativ beeinflussen, weil sie oft einen jahrelangen Kampf hinter sich haben, als das eigene Geschlecht gesehen und akzeptiert zu werden (Studienübersicht: Definition und Auswirkungen von Misgendern, VLSP*, 2021).
Nicht-diskriminierende Kommunikation >
Korrekte Anwendung von Pronomen >
Es sollte aber auch verhindert werden, dass Menschen sich selbst misgendern müssen, indem es nur binäre Optionen für Geschlecht gibt (Formulare, Kategorien, WCs etc.).
Inklusive Formulare >
Inklusive Architektur & Design >
Deadnaming
In der Non-Binary- und Trans-Community wird der Begriff «Deadname» benutzt für nicht mehr verwendete (Geburts-) Namen. Für einige ist der Deadname mit viel Schmerz verbunden und deshalb möchten sie diesen auch nicht mehr hören. Deshalb ist es eine allgemeine Regel, non-binäre Menschen nicht nach ihrem Geburtsnamen zu fragen oder diesen weiter zu erzählen. Bis Sie sich sicher sind, dass eine Person damit kein Problem hat, sollten Sie sich auf jeden Fall an diese Regel halten. Aber auch dann stellt sich die Frage, ob es wirklich einen guten Grund gibt, diesen nicht mehr relevanten Namen wissen oder sagen zu wollen. Das Thema «Deadnaming» ist vor allem auch relevant im Zusammenhang mit IT-Systemen, in Arbeitsverhältnissen oder im Bildungsbereich.
Inklusive User Experience Design >
Inklusive Arbeitgebende >
Fremdouting (ungewolltes Outing)
Wenn über Personen unfreiwillig bekannt wird, dass sie non-binär, trans, bisexuell etc. sind (Outing), kann das für die Betroffenen sehr unangenehm sein und und einen schmerzhaften Vertrauensbruch bedeuten. Deshalb sollten Sie immer Acht geben, wenn Sie über eine non-binäre Person sprechen, dass Sie sie nicht unfreiwillig outen. Dazu ist aber auch wichtig zu wissen, ob die non-binäre Person gegenüber diesen Menschen schon ein Coming-out hatte oder nicht. Sie müssen sich bewusst sein, dass non-binäre Personen manchmal ihre Coming-outs in verschiedenen Kontexten zurückhalten wollen oder müssen (Mehr: Coming-out).
Subtilere Formen von Diskriminierung
Wer noch nie Kontakt mit non-binären Menschen hatte, kann das allenfalls auch sehr «spannend» finden und dabei viele Fragen haben. Wenn es auch für non-binäre Menschen sehr positiv sein kann, wenn andere sich für ihre Lebensrealitäten interessieren, kann das auch schnell in unangenehme Bereiche kippen.
Intimen Fragen
Wenn Fragen zu persönlich werden, kann das sehr unangenehm sein. Was eine angebrachte Frage ist, hängt aber sicher auch von der Beziehung ab, die Sie zu einem Menschen haben. Wenn Sie eine non-binäre Person gerade erst kennengelernt haben, sind Fragen zu Sexualität, Operationen, etc. nicht angebracht. Den Nachbarn, den Sie hin und wieder im Treppenhaus antreffen, würden Sie auch nicht fragen, ob er eigentlich eine Operation seiner Prostata plane, wie er denn jetzt genau Sex hätte und ob er auch Viagra nehmen würde. Kennen Sie aber eine Person schon sehr gut, dann können solche Fragen schon auch angebracht sein. Aber auch dann kommt es genau auf die Beziehung zur anderen Person und die konkrete Situation an.
Interesse ist schön – aber wir sind kein Lexikon
Es kann sein, dass non-binäre Menschen sehr gerne über das Thema Geschlecht reden und es auch empowernd empfinden, wenn andere sich interessieren. Deshalb ist das Stellen von allgemeinen Fragen nicht grundsätzlich schlecht. Im Mass kann das etwas sehr Positives sein. Sie sollten aber auch schauen, dass sie non-binäre Menschen nicht als Lexikon missbrauchen. Viele der grundlegenden Fragen werden auf dieser Website hier oder auf anderen Websites, in Büchern oder Podcasts beantwortet. Oder es gibt auch Beratungsangebote.
Exotisierung – auch «positive» Aussagen können verletzend sein
Als non-binäre Menschen bekommen wir manchmal zu hören, wir seien so «inspirierend», «mutig» oder «zukunftsweisend». In den meisten Fällen ist klar spürbar, dass diese Aussagen «gut gemeint» sind und uns Freude machen sollen. Je nach Situation kann das auch so ankommen. Aber Sie sollten sich auch bewusst sein, dass Aussagen in der Art verletzend sein können. Warum? Viele non-binäre Menschen wollen primär einfach ihr Leben leben und sehen sich nicht in dieser Rolle der ständigen Inspiration für andere – denn das kann auch ganz schön anstrengend werden. Wenn wir hören, wir seien so mutig, so wird dabei auch unmissverständlich klar, dass wir uns «mutig» gegen eine Gesellschaft stellen, die uns noch nicht als einen selbstverständlichen Teil sieht und das kann schmerzhaft sein. In solchen «positiven» Aussagen passiert auch ein sogenanntes «Othering» (Aussage «du gehörst nicht dazu»).
Der Begriff «Mikroaggressionen»
Solche «kleineren» Diskriminierungen werden manchmal auch «Mikroaggressionen» genannt. Bei dieser Form von Diskriminierung ist wichtig zu verstehen, dass solche Aussagen vielleicht wirklich vernachlässigbar wären, wenn sie nur dreimal im Jahr vorkommen würden. Das Problem ist aber, dass solche kleinen Ausgrenzungen, Abwertungen, etc. einer non-binären Person über den Tag hinweg dutzende Male passiert und das dann aufsummiert über die Jahre eine grosse Belastung darstellt. Das Problem mit den Mikroaggressionen ist: Die Menge machts!
Eine mögliche Metapher für Mikroaggressionen ist die Analogie zu einem Mückenstich. Wenn wir an einem Tag nur einen Mückenstich abkriegen, dann ist das wirklich nicht viel anderes als eine kleine Irritation. Wenn wir aber jeden Abend immer wieder 100 Mückenstiche haben und dann am nächsten Tag wieder, dann sieht es anders aus.
Psychische Gesundheit non-binärer Menschen
Trans und vor allem non-binäre Personen sind besonders stark von einer schlechteren psychischen Gesundheit betroffen – im Vergleich zum Durchschnitt der Bevölkerung. Das hat aber nicht damit zu tun, dass non-binär sein eine psychische Krankheit wäre, sondern mit der Stigmatisierung und Diskriminierung in unserer starr zweigeschlechtlichen Gesellschaft. Diese Art der Belastung wird auch vom sog. «Minoritäten-Stress-Modell» (siehe auch Artikel im Psychological Bulletin, 2003) beschrieben.
Die Studie «Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz» (Bericht, 2023) kommt zum Schluss: «Trans und non-binäre Personen … sind nicht nur stärker psychisch belastet als cis LGB-Personen. Sie begingen auch häufiger und häufiger mehr als einmal in ihrem Leben einen Suizidversuch.» und «… Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen … werden auch in der Gesundheitsversorgung gemacht …, wobei trans/non-binäre Personen am stärksten betroffen waren.».
Die Studie empfiehlt diversitätssensible Aus- und Weiterbildung von Professionellen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen (Lehrpersonen, Sozialarbeitende, Ärzt*innen, Pflegefachpersonen, Hebammen, Psycholog*innen etc.) zu LGBT-Themen. Zu entsprechenden Bildungsangeboten
Neurodiversität und non-binäres Geschlecht
Basierend auf dem subjektiven Eindruck aus der Trans-Community und aus Forschungsergebnissen (Artikel in Nature Communications, 2020) gibt es zwischen den Gruppen von neurodiversen und genderdiversen Menschen eine grosse Überlappung. Für diese Überschneidung der beiden Themen gibt es verschiedene Erklärungsversuche. Neurodivergenz ist ein Überbegriff über Themen wie Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Synästhesie, Hochbegabung, Hochsensitivität (HSP), etc. Bücher zu Neurodivergenz
Gewisse neurodivergente Menschen sehen ihr Geschlecht eng verknüpft mit ihrer Neurodivergenz. Solche Geschlechtsidentitäten (z.B. Autigender, Bordergender, Gendervague) werden auch «Neurogenders» genannt. Mehr zu Neurogenders
Schwieriges Verhältnis zu Fachpersonen
Weil Transgeschlechtlichkeit in der Vergangenheit stark pathologisiert wurde und das immer noch bei vielen Fachpersonen zu spüren ist, haben non-binäre Menschen ein schwieriges Verhältnis zu Fachpersonen. Auch die Studie «Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz» (Bericht, 2023) hält fest:
«Die Studie geht davon aus, dass u. a. Diskriminierung und Stigmatisierung dazu führen, dass ein Teil der LGBT-Menschen in der Schweiz medizinische Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Das mangelnde Vertrauen in Ärzteschaft, Krankenhäuser usw. ist unter LGBT-Personen doppelt so hoch wie bei der übrigen Schweizer Bevölkerung (rund 16 Prozent gegenüber 7 Prozent).»
– Studie «Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz»
Gewissen Fachpersonen ist diese Spannung bewusst – wie auch dem Mediziner David Garcia Nuñez (Artikel in der Schweizer Ärztezeitung, 2023): «Eines der Probleme liegt darin, dass viele Mediziner:innen den Gefühlen und dem Erleben von trans Menschen misstrauen.»
Vor allem non-binäre Menschen erleben immer wieder, dass Fachpersonen ihre Geschlechtsidentität nicht ernst nehmen (Artikel im Bajour, 2020): «Mein Gynäkologe verspricht mir dauernd verheissungsvoll: ‹Sie werden irgendwann schon noch voll transitionieren›.»
Non-binäre Menschen müssen auch davon ausgehen, dass Fachpersonen kein grosses Wissen haben, wie sie den spezifischen Bedürfnissen von non-binären Menschen gerecht werden können (Artikel im Stern, 2023): «Mein Endokrinologe geht davon aus, dass ich eine ‹komplette› vermännlichende Transition machen möchte. … Ich weiß von der Community, dass er kein Fachwissen über nicht-binäre Transitionsmöglichkeiten hat. Ich möchte es ihm gegenüber nicht thematisieren aus Angst, er könnte mir dann die Weiterbehandlung verweigern.»
Unterschiedliches Erleben
Oben wurden Aspekte beschrieben, die viele – wenn auch nicht alle – non-binären Menschen ähnlich erleben. Aber nebst diesen Ähnlichkeiten gibt es auch Bereiche, in denen non-binäres Erleben grundlegend verschieden sein kann:
- Verschiedene Ausprägungen von non-binärem Geschlecht (siehe auch Labels) beschreiben ein sehr unterschiedliches geschlechtliches Erleben. Ihnen gemeinsam ist nur, dass die Labels «Frau» oder «Mann» nicht passend sind.
- Verschiedene Faktoren wie Persönlichkeitsmerkmale, Lebenserfahrung, sozioökonomischer Status, kulturelle Hintergründe und Gesundheit haben einen Einfluss darauf, wie Menschen das non-binär-Sein subjektiv erleben sowie leben können und welche Art von Diskriminierungen sie erfahren sowie was ihre Ressourcen sind damit umzugehen.
- Erleben Personen noch in anderen Bereichen Diskriminierungen, muss ihre Situation nicht nur in Bezug auf die Mehrfachdiskriminierung, sondern aus einer intersektionalen Perspektive (Überschneidung von Diskriminierungsformen, die sich gegenseitig beeinflussen können) betrachtet werden.
Geschichten zu non-binären Lebensrealitäten
Weil die Auswirkungen von alltäglichem Misgendering etc. schwierig nachzuvollziehen sind – für Menschen, die das selbst noch nie erlebt haben – sind Lebensgeschichten hilfreich. Einblicke ins Leben non-binärer Menschen sind z.B. möglich mit Büchern (non-binäre Biografien), Podcasts oder Filmen.
Wie non-binäre Menschen unterstützen?
Informationen dazu, wie non-binäre Menschen unterstützt werden können (Übersicht):
Unterstützung in den Bereichen:
- Umgang generell >
- Kommunikation >
- Anwendung von Pronomen >
- Formulare >
- Architektur & Design >
- User Experience Design >
Unterstützung durch:
- Angehörige >
- Arbeitgebende >
- Medien >
Auch mit Aktivismus (z.B. in Hinblick auf nicht-binäre Geschlechtseinträge in der Schweiz) können non-binäre Menschen aktiv unterstützt werden.
Weitere Quellen
- Diskriminierungen, Misgendering, Mikroaggressionen etc.:
- Artikel: Diskriminierung 2.0: Algorithmen sind binär, Menschen nicht (humanrights.ch, 2024)
- Audiobeitrag: Misgendern [2:06 min] von SRF «100 Sekunden Wissen» (11.8.2020)
- Studienübersicht: Definition und Auswirkungen von Misgendern (von Margret Göth, 2021, publiziert bei VLSP*)
- Website: The Micropedia (Website zu Mikroaggressionen)
- Psychische Gesundheit von non-binären Menschen:
- Studie: Gesundheit von LGBT-Personen in der Schweiz (Bericht, 2023)
- Schwieriges Verhältnis zu Fachpersonen:
- Artikel: Transboys will be Boys and only Boys? Blödsinn! (Bajour, 2020)
- Artikel: Jamie ist nicht-binär und trans* – warum er sich in den Händen von Ärzt*innen nicht gut aufgehoben fühlt (Stern, 2023)
- Artikel: Der schwierige Weg zu sich selbst (Schweizer Ärztezeitung, 2023)
- Podcast Willkommen im Club: Medizin unterm Regenbogen – wenn der Ärzt:innenbesuch zum Spiessrutenlauf wird [Audio 35 Min.]
- Neurodiversität:
- Artikel: Elevated rates of autism, other neurodevelopmental and psychiatric diagnoses, and autistic traits in transgender and gender-diverse individuals (Nature Communications, 2020)
Text von: Evianne Hübscher
Erste Veröffentlichung: 12.3.2024 | Letztes Update: 28.5.2024